DVJJ Sstellungnahme Icon

Mindeststandards für Gefährderansprachen bei Minderjährigen

3. Juli 2012

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Polizei in der DVJJ hat – ausgehend von einer Tagung im vergangenen Herbst – Mindeststandards für Gefährderansprachen bei Minderjährigen erarbeitet. Die Standards befassen sich unter anderem mit Voraussetzungen, der rechtlichen Einordnung der Maßnahme und der Notwendigkeit fachlich qualifizierter Jugendsachbearbeitung.

1. Vorbemerkungen
In der Zeit vom 14.11. bis 16.11.2011 fand in Springe eine Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Polizei in der DVJJ mit dem Titel „Gefährderansprachen bei Minderjährigen. Rechtliches – Fachliches – Praktisches“ statt.
Bereits relativ früh im Tagungsablauf wurde deutlich, dass die Anwesenden von höchst unterschiedlichen Begrifflichkeiten, Maßnahmen, rechtlichen Einordnungen und Definitionen ausgingen.
Insofern verfolgte die BAG Polizei einerseits das Ziel, mit der Veranstaltung fachliche Informationen zu vermitteln und Diskussionsmöglichkeiten zu eröffnen, andererseits sollte der Versuch unternommen werden, Mindeststandards für Gefährderansprachen aus Sicht des Fachverbandes DVJJ herauszuarbeiten.
Etliche Inhalte der im Rahmen der Tagung erarbeiteten Ergebnisse sind in diese Mindeststandards eingeflossen, die der Sprecherrat der BAG Polizei am 05.06.2012 beschlossen hat.

2. Mögliche Szenarien
2.1 Allgemeines

Gespräche mit Minderjährigen durch die Polizei werden unter anderem in der Jugendsachbearbeitung bei bestimmten Verfahrensweisen, wie beispielsweise Vielfach- bzw. Mehrfachtäterkonzepten, angewandt. Sie werden jedoch auch bei sich abzeichnenden Großlagen, wie z.B. Fußballspielen oder Demonstrationen (Deeskalationsteams), eingesetzt. Besondere Situationen entstehen darüber hinaus bei Amok(bedrohungs)lagen, die oftmals sofortiges polizeiliches Eingreifen erfordern.
Gleichwohl gibt es keine abschließende Auflistung möglicher Konstellationen, in denen Gefährder-ansprachen durchgeführt werden sollten bzw. sich anbieten, da immer mit neuen Erscheinungsformen und sich verändernden Situationen gerechnet werden muss.

2.2 Agieren im Rahmen von bestimmten Verfahrenskonzepten (z.B. Intensivtäterprogrammen der Länder)
Bei Minderjährigen, deren Vorgänge aufgrund bestimmter Umstände in besonderen Verfahrenskonzepten der Polizei bearbeitet werden, werden in der Regel kommunikative Elemente eingesetzt, um die Betroffenen von weiterem deviantem Verhalten abzuhalten. Bei diesen Gesprächen geht es meist um sogenannte „Hilfe- und normenverdeutlichende Gespräche“.

2.3 Ansprachen bei sich abzeichnenden Großlagen
In diesen Situationen werden in der Regel Minderjährige angesprochen, die aufgrund ihrer Nähe zur Thematik und möglichen vorangegangenen Ereignissen in die Gefahr geraten könnten, sich nicht aus Geschehen heraushalten zu können, die polizeiliches Handeln erforderlich machen. Es geht darum, einerseits die Minderjährigen nicht in unangenehme Situationen geraten zu lassen, andererseits zu erreichen, dass Eskalationen gar nicht erst entstehen.
Derartige Gespräche stellen in der Regel dringende Bitten und Hinweise auf bestimmtes Verhalten an die Betroffenen durch die Polizei dar.

2.4 Ansprachen bei konkreten Gefährdungslagen
Bei bevorstehenden Lagen, die wiederkehrend eintreten und regelmäßig durch bestimmte Minderjährige eskaliert werden, erfolgen oftmals gezielte Ansprachen. In diesen Fällen wird deutlich auf die zurückliegenden Sachverhalte hingewiesen und eine klare Ansage dahingehend formuliert, dass für den Veranstaltungstag ein bestimmtes, deeskalierendes Verhalten erwartet wird. Zudem werden entsprechende Verfügungen erteilt.
Hier handelt es sich um klare Anordnungen und Verfügungen durch die Polizei.

2.5 Amokbedrohungslagen
In derartigen Situationen bestehen oftmals zunächst noch diffuse Erkenntnisse, die noch verifiziert werden müssen. Häufig liegen lediglich Hinweise von außen vor, die ein ungutes Gefühl ausdrücken, ohne irgendwie konkret zu sein. Hier dienen Gespräche bei möglicherweise in den Fokus rückenden Minderjährigen einerseits weiterem Erkenntnisgewinn, andererseits der Hinweisgabe („wir sehen dich“ / „verhalte dich weiterhin ordentlich“ / „wenn du Hilfe benötigst, sind wir da“).

3. Mindeststandards für Gefährderansprachen
3.1 Definition

Gefährderansprache ist die Ansprache einer Person beim Verdacht einer Gefahr mit dem Ziel der Verhaltensänderung oder Beibehaltung konformen Verhaltens. Sie kann mit oder ohne Grundrechtseingriff erfolgen (vgl. Ziffer 3.3).
Die Gespräche, die im Rahmen von Jugendsachbearbeitung stattfinden, werden nicht in den Bereich der Gefährderansprachen aufgenommen, wenngleich die Ziele den hier genannten entsprechen (können).

3.2 Voraussetzungen
Gefährderansprachen setzen das Vorhandensein oder den Verdacht von Gefahren im Sinne der Polizeiaufgabengesetze oder der Gesetze über Sicherheit und Ordnung der Länder voraus. Es geht somit ausdrücklich nicht um „Milieupflege“ oder allgemein gehaltene Gespräche bei Jugendschutzstreifen o.ä. Gefährderansprachen haben deshalb auch immer ein konkretes Ziel – nämlich eine Gefahr zu erkennen und zu beseitigen oder zumindest abzuschwächen und mögliche Störungen zu vermeiden, um mit anderen Möglichkeiten weiter zu agieren.

3.3 Rechtliche Einordnungen / rechtlich einwandfreies Handeln
Es versteht sich von selbst, dass polizeiliches Handeln, in welchem Zusammenhang auch immer, rechtlich korrekt sein muss. Je weniger konkret dieses Handeln normiert ist, umso schwieriger werden bisweilen die rechtlichen Einordnungen.
Im Zusammenhang mit Gefährderansprachen ist es geboten, in jedem Einzelfall zu prüfen und zu entscheiden, welcher rechtliche Rahmen zugrunde liegt.

3.3.1 Ansprachen im Rahmen von polizeilichen Verfahrenskonzepten
In diesen Zusammenhängen geht es in der Regel um Verdeutlichungen dahingehend, dass die Betroffenen im Blick der Polizei sind und sich darüber im Klaren sind.
Derartige Aktionen der Polizei entsprechen in der Regel schlichtem Verwaltungshandeln.

3.3.2 Ansprachen bei sich abzeichnenden Großlagen
In solchen Situationen können, je nach Ausgangslage, aufgrund polizeilicher Erfahrungen und Erkenntnisse bestimmte Personen und deren Verhaltensweisen entscheidend den Verlauf (gegebenenfalls negativ) beeinflussen. Wenn die Lagebeurteilung erbringt, dass bestimmte Personen in Zusammenhang mit der Veranstaltung Gefahren erzeugen bzw. verstärken oder Störungen realisieren könnten, ist eine Ansprache dieser Personen im Vorfeld unter Umständen sehr sinnvoll.
Diese Ansprache durch die Polizei kann „dringende Bitte“ oder „eindringlichen Rat“ oder „hohe Erwartungshaltung“ ausdrücken.
Derartige Aktionen der Polizei stellen in der Regel keine Verwaltungsakte (VA) dar.
Gleichwohl können Grundrechtseingriffe gegeben sein, die einer Ermächtigung bedürfen.
So hat beispielsweise das OVG Lüneburg entschieden, „… (wenn) dem Adressaten nahegelegt wird, sich nicht an Demonstrationen zu beteiligen, um zu vermeiden, dass er polizeilichen Gefahrabwehrmaßnahmen ausgesetzt wird, greift (dies) in die grundgesetzlich geschützte Willensentschließungsfreiheit des Betroffenen, an Demonstrationen teilzunehmen, ein und bedarf deshalb einer gesetzlichen Grundlage.“
Damit ist ein Rechtsverhältnis Polizei / Betroffener entstanden, das dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit aus Artikel 20 Abs. 3 GG entsprechen muss und selbstverständlich justizieller Überprüfung durch Gerichte zugänglich ist.
Die Maßnahme der Gefährderansprache muss in diesem Zusammenhang mithin auf eine Ermächtigungsnorm gestützt werden.

3.3.3 Ansprachen bei konkreten Gefährdungslagen
Bei wiederkehrenden Ereignissen, die hohes Konfliktpotential beinhalten und die regelmäßig dieselben Personen besuchen, bestehen Möglichkeiten, per Verfügung (also Verwaltungsakten) Gefährderansprachen vorzunehmen. In diesen Fällen formuliert die Polizei klar die Situation und die negative Prognose. Die Polizei verfügt Entscheidungen in Richtung der Betroffenen (Verhaltensstörer) und erlässt so Verwaltungsakte.
Diese Entscheidungen sind selbstverständlich verwaltungsgerichtlich überprüfbar.

3.3.4 Kurze rechtliche Zusammenfassung / Anmerkungen
Notwendig und erforderlich ist vor Ansprachen Minderjähriger Klarheit darüber, in welchem rechtlichen Rahmen sich die Polizei bewegt. Zu prüfen ist, ob die gegebenenfalls erforderlichen Ermächtigungen entsprechend gegeben sind.

3.4 PDV 382 (Bearbeitung von Jugendsachen) / Ziff. 2ff. (Gefahrenabwehr)
Die PDV 382 definiert Jugendsachen folgendermaßen:
„Jugendsachen im Sinne der Vorschrift sind polizeiliche Vorgänge, an denen Minderjährige beteiligt sind…“
Damit wird deutlich, dass Gefährderansprachen gegenüber Minderjährigen Jugendsachen sind.
Die PDV 382 regelt den Umgang mit Minderjährigen bei Gefahrensituationen:
„Die Polizei hat im Rahmen ihrer Zuständigkeiten Gefahren abzuwehren, die Minderjährigen drohen oder von ihnen ausgehen.
Näheres ergibt sich aus Ziff. 2 PDV 382 insgesamt.

3.5 Beteiligung von Eltern / Personensorgeberechtigten
Bei einer Gefährderansprache handelt es sich um eine Maßnahme des Polizeirechts. Es gilt das „Störerprinzip“. Daraus ergibt sich, dass Altersklassifizierungen der Betroffenen (Kinder, Jugendliche, Heranwachsende oder Jungerwachsene) in der Regel nicht relevant sind. Die jeweils zu ergreifenden Maßnahmen richten sich direkt an die Betroffenen – bei Gefährderansprachen mithin an den „Verhaltensstörer“. Dabei sind immer die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Gleichwohl ist es meist sehr sinnvoll, die Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten einzubeziehen, weil sich damit einerseits wahrscheinlich die Einsichtsbereitschaft des Betroffenen erhöht und andererseits die Mitwirkungsmöglichkeiten der Personensorgeberechtigen und Erziehungsberechtigten ernsthaft angeboten werden, woraus sich gegebenenfalls weitreichende positive Entwicklungen für die Zukunft der Betroffenen ergeben könnten.

3.6 Wer führt eine Gefährderansprache durch?
„Mit der Bearbeitung von Jugendsachen sind besonders geschulte Polizeibeamte (Jugendsachbearbeiter) zu beauftragen. Soweit solche nicht zur Verfügung stehen, sind andere geeignete Polizeibeamte einzusetzen.“
Diese durch die PDV 382 normierte Verpflichtung ist eindeutig und zeigt auf, dass nicht jeder Polizeibeamte eine derartige Maßnahme ergreifen kann und darf.
Die von der BAG Polizei erarbeiteten „Mindeststandards polizeilicher Jugendarbeit“ zeigen ausführlich und differenziert auf, dass im Umgang mit Minderjährigen spezielle Kenntnisse erforderlich sind, um zielführend und angemessen agieren zu können. So heißt es dort:
„Vielmehr muss eine Befähigung und eine Erfahrung zum Umgang mit jungen Menschen erwartet werden, die es den in diesem Bereich eingesetzten Beamten ermöglicht, alters- und problemangemessen auf Lebenssituationen, Sprache und Bedürfnisse zu reagieren.“
Gefährderansprachen müssen mithin durch Jugendbeauftragte, Jugendsachbearbeiter, Beamte im Polizeilichen Jugendschutz, Jugendbeamte oder andere entsprechend fachlich ausgebildete Polizeibeamte erfolgen.
Diese Bedingung erfordert auch die Akzeptanz durch die hohen Leitungsebenen der Polizei. Es ist nämlich auch erforderlich, den fachlichen Akteuren Entscheidungskompetenzen hinsichtlich des „OB“ und des „WIE“ einzuräumen und auch zu vertreten.

3.7. Wo sollten Gefährderansprachen stattfinden?
Die auf der Hand liegenden Örtlichkeiten wie Schule, Zuhause und Polizeidienststelle zeigen lediglich einen kleinen Ausschnitt der gegebenen Möglichkeiten auf. Es wird in einer aktuellen Situation Entscheidung des fachlichen Akteurs der Polizei sein, den Ort der Durchführung einer Gefährderansprache zu bestimmen.

3.8 Dokumentation
Aufgrund des aufgezeigten Handlungsrahmens und der insofern unter Umständen gegebenen Rechtsbeziehung Betroffener / Polizei ist es unerlässlich, eine Gefährderansprache zu dokumentieren. Dabei sollten unter anderem benannt werden: Personalien; gegebenenfalls Personensorgeberechtigte; Zeitpunkt; Anlass; Antreffsituation; Inhalt der Ansprache; Verhalten/Reaktion des Betroffenen; Wirkung der Ansprache auf den Betroffenen; Gründe, warum gegebenenfalls von der Ansprache abgesehen oder sie abgebrochen wurde; getroffene Maßnahmen; Sonstiges.

3.9 Sonstiges
Nicht jedes normabweichende jugendtypische Verhalten ist auch tatsächlich sicherheitsrelevant. Es muss demnach abgewogen werden, ob im Einzelfall nicht eher diejenigen angesprochen und aufgeklärt werden sollten, die sich gegebenenfalls bedroht fühlen. Auch in solchen Fällen sollte eine Entscheidung des fachlichen Akteurs in der Polizei akzeptiert und umgesetzt werden.

4. Zusammenfassung / Ausblick
Die Gefährderansprache ist kein Allheilmittel der Polizei für alle erdenklichen Lagen und Problemstellungen. Miteinander sprechen ist allerdings immer gut und sehr oft erfolgreich!
So hat beispielsweise das Bundesverfassungsgericht im vielbeachteten so genannten „Brockdorf-Beschluss“ – einer Grundsatzentscheidung zum Versammlungsrecht – formuliert: „… insbesondere eine rechtzeitige Kontaktaufnahme erfolgt, bei der beide Seiten sich kennenlernen, Informationen austauschen und möglicherweise zu einer vertrauensvollen Kooperation finden, welche die Bewältigung auch unvorhergesehener Konfliktsituationen erleichtert.“
Diese Entscheidung weist – auch wenn der Sachverhalt mit der hier in Rede stehenden Thematik nur begrenzt zusammenhängt – auf die besondere Notwendigkeit hin, unbedingt vor einschneidenderen Maßnahmen den Dialog zu suchen. Und das gilt grundsätzlich für alle Bereiche. Die Gefährderansprache stellt unter Umständen die weniger eingriffsintensive Maßnahme der Polizei dar.
Die Polizei muss also entscheiden, in welchen Fällen eine Gefährderansprache unter den oben angeführten Bedingungen sinnvoll ist. In der Bearbeitung von Jugendsachen ist diese Möglichkeit nur eine von vielen. Die Kenntnisse polizeilicher Jugendfachleute über die Zuständigkeiten anderer Behörden und Institutionen, der möglicherweise vorhandene direkte Kontakt zu dortigen verantwortlichen Personen und gegebenenfalls die Erkenntnis, dass diese bessere und erfolgversprechendere Einflussmöglichkeiten haben, bewirken möglicherweise, dass die Polizei sich zurückhalten kann (und sollte) und von anderer fachlicher Seite agiert wird.
Eines ist jedoch vollkommen klar. Wie und wer auch immer mit verbalen Möglichkeiten agiert – diese Art und Weise, möglichen Gefährdungen oder Störungen vorzubeugen und zu begegnen ist allemal besser, als mit polizeilicher Gewalt eingreifen zu müssen.

Für die BAG Polizei
Werner Kunath,
EKHK a.D. / Polizei Hamburg, beratendes Mitglied im Sprecherrat der BAG Polizei
Renate Schwarz,
KHK’in im Polizeipräsidium Mittelfranken / SG E 3, Mitglied im Sprecherrat der BAG Polizei